Crossing Boundaries. Human-Animal Relations from Post-Petrine Russia to the Soviet State (1725–1991)

Crossing Boundaries. Human-Animal Relations from Post-Petrine Russia to the Soviet State (1725–1991)

Organisatoren
Helena Holzberger, Ludwig-Maximilians-Universität München; Timm Schönfelder, Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europas (GWZO)
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
29.06.2023 - 30.06.2023
Von
Fiona Rachel Fischer / Magdalena Mihaljevic, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Grenzen zwischen Tier und Mensch, Grenzen zwischen staatlichen Einflusszonen und Grenzen zwischen Narrativen zu übertreten war das Anliegen der Tagung. Dazu wandten die Organisatoren die Human-Animal-Studies auf die Geschichte des russischen Reichs und der Sowjetunion an. Die spezifischen Fragen der historischen Osteuropaforschung nach zarischem Expansionismus und sozialistischer Wirtschaft wurden mit anderen Bereichen der Geschichtsforschung wie den Area Studies, den Imperial Studies sowie den Urban Histories verbunden. Ein Spannungsfeld blieb der zentrale und zugleich umstrittene Begriff „agency“, der das Tier als intentional handelnden Akteur abwägt. In fünf Panels und einer Keynote-Lecture diskutierten die Vortragenden und Teilnehmenden verschiedene Ansätze zur Integration von Tieren in die Historiographie, was einen Querschnitt durch die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten erzeugte.

Das Panel zu Jagd und Tötung von Tieren eröffnete ANDREAS RENNER (München) mit seinem Vortrag über die Nordostpassage, eine Kontaktzone zwischen Eisbär und Mensch. Renner beschrieb den Eisbären als Symbol der arktischen Wildnis, der mit dem Eindringen des Menschen in seinen Lebensraum von einem unangefochtenen Jäger auch zum Gejagten wurde. Die Tötung eines Eisbären entwickelte sich ihm zufolge zu einem Demonstrationsakt, der die menschliche Überlegenheit über die Natur beweisen sollte.

In seinem Vortrag über das große Massaker an Hunden in russischen Städten am Ende des imperialen russischen Reichs stellte ANTON KOTENKO (Helsinki) die These auf, dass Hunde, vormals als Begleittiere geschätzt, zunehmend als Gefahr eingestuft und massenhaft getötet wurden. Aus diesem Grund haben sie neue Rollen in der Gesellschaft beansprucht, beispielsweise als Polizeihunde, wodurch sie sich dem Menschen erneut unentbehrlich machten.

TANYA BAKHMETYEVA (Rochester) beschrieb die Jagd der sowjetischen Parteielite als Ritual performativer Maskulinität, in der die Überlegenheit der Männer über Natur und Anwesende vor allem durch die Ausstellung ihrer Jagderfolge demonstriert wurde.

Im ersten Vortrag des folgenden Panels zu Plagen und Krankheiten argumentierte ANASTASIA FEDOTOVA (St. Petersburg), dass das Monopol der staatlichen Dienste zur effektiven Seuchenbekämpfung der marokkanischen Wanderheuschrecke im 20. Jahrhundert zu einer großen Abhängigkeit der zentralasiatischen Bauern vom Zentrum geführt hatte. Sie leitete daraus die These ab, diese Anti-Locust-Dienste seien eine soft power des Imperiums gewesen.

In seinem Vortrag über die von preußischen Wissenschaftlern als „russische Seuche“ stereotypisierte Rinderpest des 19. Jahrhunderts schilderte TATSUYA MITSUDA (Berlin) Dynamiken in Tiermedizin und Infektionsgeschehen. Er folgerte, dass die unterschiedlichen Bemühungen zur Eindämmung durch Preußen und das Zarenreich auf divergierende Interessen in Politik, Wirtschaft und Forschung zurückzuführen sind. Zudem bescheinigte er diesem Konflikt über die Rinderplage, den Weg zu einer Industrialisierung von Rindern begünstigt zu haben.

VERA SMIRNOVA (Almaty) referierte zur Brucellosis im sowjetischen Kasachstan und der dadurch beschleunigten Industrialisierung der sowjetischen Landwirtschaft. Sie vertrat die These, dass diese Entwicklung zu einer Entfremdung von den Tieren führte, deren Lebensbedingungen sich durch mangelhafte Haltung und Infektionen verschlechterte. Der sozialistische Staat habe dies nicht geändert, sondern war als Profiteur an die Stelle der Kapitalisten getreten.

Das dritte Panel zu Tierversuchen eröffnete MATTHEW ADAMS (Brighton) mit seinem Vortrag über das Pavlov’sche „Königreich der Hunde“. Er untersuchte die Lebensbedingungen der Versuchshunde des Wissenschaftlers Ivan Petrovič Pavlov und die Grade an Handlungsfreiheit, die sie im Laborumfeld besessen haben. Zudem stellte er sein Projekt vor, die Experimentgeschichte des bekannten Forschers mit multimedialen kunstbasierten Projekten aus Hundesicht neu zu schreiben.

TRACY MCDONALD (Hamilton, ON) präsentierte eine gemeinsame Arbeit mit ROBERT KINDLER (Berlin). Sie analysierte die teilweise grausame Forschung von Tit Mal′kovič an Seeottern in den 1930er-Jahren und die Verhältnisse zwischen Tieren und Wissenschaftlern. Das von ihr und Matthew Adams verfolgte Ziel, kritische Forschung zu Labortieren zu betreiben, begründeten sie auf Nachfrage mit der Hoffnung, neuen Generationen von Wissenschaftler:innen einen kritischen Blick auf die Wissenschaftsgeschichte und die Methode des Experimentierens mitzugeben.

Im Hauptvortrag stellte RYAN TUCKER JONES (Eugene, OR) seine 2022 veröffentlichte Monographie „Red Leviathan. The Secret History of Soviet Whaling“ vor und sprach über die Möglichkeiten, tierische Geschichte anhand von Verflechtungen der agencies, Netzwerke und tierischen Kulturen zu erzählen. Die im Ohrenschmalz von Walen nachweisbaren Stresshormone hätten den Schwankungen des grausamen sowjetischen Walfangs entsprochen. Tiergeschichte verlief und verlaufe Tucker Jones zufolge oft analog zur Menschengeschichte. In der anschließenden Diskussion wurden hauptsächlich drei Punkte debattiert: die Sowjethaftigkeit des Walfangs, die im kollektiven Charakter und der Teilnahme von Frauen zu finden war; die von Tucker Jones als Motivation ausgeschlossene Dominanz über die Natur, die in den entemotionalisierten Narrativen über Wale nicht zu finden sei, wenngleich sich eine gewisse performative Männlichkeit dennoch in der Semantik des Walfangs zeige, und die Begriffe Kultur und Genozid, die Tucker Jones auf den Walfang und das soziale Leben der Meeressäuger anwandte.

ANNA OLENENKO (Edmonton, AB) eröffnete Panel IV zur Land- und Fleischwirtschaft. Sie stellte den Versuch vor, Kamele von der Mitte des 18. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts als landwirtschaftliche Arbeitstiere in der Schwarzerde-Region zu akklimatisieren. Hier sah sie eine Vermischung von europäischen und zentralasiatischen Traditionen, die anhand der wechselhaften Beziehung der Bauern zu dem fremdartigen Tier analysiert werden können.

JULA MALITSKA (Stockholm) beschäftigte sich mit wissenschaftlichen Ansichten zu fleischloser und fleischbasierter Ernährung im Zarenreich des späten 19. Jahrhunderts. Sie stellte die These auf, dass die Ernährung mit tierischen Produkten Anhänger in der Politik fand, die die Fleischproduktion zum Wohle der Gesundheit der Bevölkerung und der wirtschaftlichen Kraft zu optimieren versuchten, um die eigene Versorgung und den Export nach Westen zu steigern.

Im letzten Panel zu Tieren in der Unterhaltungsbranche veranschaulichte MORITZ FLORIN (Erlangen) den sowjetischen Zirkus als Bewahrer von kolonialen, orientalistischen und sexistischen Bildern des russischen Imperiums. Diese Tropen hätten sich laut Florin in den Tierauftritten wiedergefunden, deren agency zwischen eigener Performance und zwangsweisem Training changierte.

Im abschließenden Vortrag erläuterte ANKE HILBRENNER (Düsseldorf) anhand einiger Beispiele aus sowjetischen Zoos, unter anderem des Alligators Saturn aus dem nationalsozialistischen Deutschland, dass Tierparkbewohner für die Bevölkerung emotional und politisch aufgeladen waren. Vor allem in Kriegszeiten hätten sie das gemeinschaftliche „Wir“ versinnbildlicht. Über den Austausch von Tieren und Zoopersonal könnte zudem eine tierische Migrationsgeschichte erforscht werden.

In den Diskussionen, die sich an die einzelnen Panels und als Abschluss der Tagung anschlossen, wurden vor allem methodologische Thematiken angesprochen. Fragen nach der Handlungsmacht von Tieren und der Auffassung des Begriffs agency sowie weitere definitorische Einwände zu Kultur, Emotionsauffassung historischer Gesellschaften und narrativer Bilder der einzelnen Tiere dominierten die Debatten.

Die Tagung beschäftigte sich mit der Kluft zwischen Natur und Kultur (nature-culture divide) sowie imperialen, postkolonialen und Gender-Themen, wobei eine Dekolonialisierung des Tieres in der Geschichte gefordert wurde. Auch die Möglichkeiten und Grenzen von Quellen zur Auswertung einer tierischen Geschichte Osteuropas wurden diskutiert. Die Interdisziplinarität und internationale Aufmerksamkeit der Tagung sprechen für ein großes zukünftiges Potenzial der Human-Animal-Studies. Die Debatten über agency konnten und sollten nicht gelöst werden. Der in der Abschlussdiskussion herausgearbeitete Ansatz, Macht als Analysekategorie für Mensch-Tier-Beziehungen heranzuziehen, kann jedoch ein fruchtbarer Ansatz für die Erfassung von Tieren als historische Akteure sein.

Konferenzübersicht:

Andreas Renner (München): White Bears, White Men and the Rule over the Northeast Passage

Anton Kotenko (Helsinki): The Great Dog Massacre. Cities of the Russian Empire, 1860s-1914

Tanya Bakhmetyeva (Rochester): The Russian Bear. Animals, Masculinity, and Power in the Soviet Union

Anastasia Fedotova (St. Petersburg): Anti-Locust Service as a „Soft Power“ of the Empire. The Case of the Moroccan Locust in Central Asia and the Caucasus in the 20th Century

Tatsuya Mitsuda (Berlin): In Search of Cattle Plague in the Steppes. Imperial Russia as Epizootic Source in 19th-Century Europe

Vera Smirnova (Almaty): Human-Animal Relations in Times of Crisis. Epidemic and Epizootic of Brecullosis in Soviet Kazakhstan

Matthew Adams (Brighton): Pavlov in St. Petersburg. Human-Animal Relations in the Kingdom of Dogs

Tracy McDonald (Hamilton, ON) / Robert Kindler (Berlin): Being Tit Mal′kovič. Being Otter

Ryan Tucker Jones (Eugene, OR): Of Russians and Whales. Writing the History of the Cetacean Genocide

Anna Olenenko (Edmonton, AB): Working Animals in Black Earth Agriculture. Traditions and Experiments (Second Half of the 18th to Early 19th Century)

Julia Malitska (Stockholm): Dietary Reform and the „Meat Question“ in the Modernizing Russian Empire

Moritz Florin (Erlangen): Dress and Dressage. Animals as Humans in the Socialist Circus

Anke Hilbrenner (Düsseldorf): Hitler’s Alligator in Moscow. Zoos in the Russian Empire and the Soviet Union in Times of War and Peace

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